Interview with Helga Bilitewski and Freddy (Friederike) Strack
Note: The interview was conducted while Papadogiannis was a recipient of the AHRC-funded project “Transnational Sexual Health Activism and Aids in Western Europe, 1980s-1990s”, which I led (project reference: AH/V013955/1). Its transcription, and the review from Bilitewski and Strack, was completed in the context of the following UKRI Future Leaders Fellowship project, led by Nikolaos Papadogiannis: “AIDS Campaigning between the Global South and Western Europe since the 1980s” (project reference: MR/Y015878/1).
Nikos Papadogiannis: Könnte ich einige Fragen im Allgemeinen über Sie, z. B. Geburt, bevorzugte Geschlecht, Studium, Arbeit, stellen?
Helga Bilitewski: Ja, also ich bin 1948 geboren, weiblich, ich habe verschiedene Berufe gelernt, also u. a. soziale Arbeit und ich habe auch ein paar Prostitutionserfahrungen aber nicht so viel.
Freddy Strack: Ich bin Soziologin, ich habe bei Hydra seit 1998 gearbeitet. Ich verstehe mich auch als Frau.
Nikos: Welche sind die wichtige Momente Ihren Teilnahme an Hydra waehrend der 1980er und 1990er Jahren?
Helga: Ich habe von der Gründung von Hydra bei meinem Studium in Sozialarbeit erfahren. Ich war total begeistert, dass es Menschen gibt, die vorurteilslos mit Prostituierten umgehen und eine Beratungsstelle eröffnen wollten. Mich hat das sehr interessiert, weil man das Thema normal besprechen konnte. Ich bin kurz nach der Gründungsphase dazu gekommen, hatte aber zu der Zeit nicht viel mit der Organisation von Hydra zu tun.
Wir sind nach 2 Jahren mit anderen Frauenprojekten in ein quasi besetztes Haus in Berlin gezogen und mussten es renovieren. Das Haus war kalt und wir hatten nicht immer Zeit, dort zu arbeiten, denn die Frauen, die anschaffen gingen, um Geld zu verdienen, hatten keine Zeit für Renovierungsarbeiten usw. Dann gab es sehr viel Streit im Haus. Die transexuellen Frauen, die zu uns kamen, wurden von einigen Feministinnen aus den anderen Frauenprojekten abgelehnt. Sie sagten, dass transexuelle Frauen durch ihre männliche Erziehung geprägt und priviligiert worden seien und darum keine richtigen Frauen seien und Hydra damit kein richtiges Frauenprojekt mehr sei und ausziehen sollte. Das führte schließlich zu unserem Auszug, und wir hatten für einige Zeit keine Beratungsstelle mehr. Aber wir hatten gute Kontakte zum Senat und haben irgendwann Fördergelder bekommen. Jeweils Tausend Mark für unsere Arbeit, und wir konnten eine Beratungsstelle eröffnen. Ich habe das zusammen mit einer befreundeten Sozialarbeiterin gemacht. Wir haben überlegt, was wir für die Frauen tun können, die in der Prostitution arbeiteten, aber keine Stelle bei Hydra wollten. Zu dieser Zeit kam das ganze Thema AIDS auf. Wir haben in der Zeitung, dem Spiegel, von der sogenannten Schwulenkrankheit gelesen. Es war also klar, dass es mit der Sexualität zu tun hatte und dass es Probleme für die Prostituierten geben würde.
Deshalb haben wir gedacht, dass wir auf dieses Thema aufmerksam machen müssen. In unserer eigenen Zeitung, dem Hydra Nachtexpress, haben wir einen kleinen Artikel zu diesem Thema geschrieben und dass eine Informationsveranstaltung im Gesundheitsamt stattfinden sollte. Um besser auf diesen Artikel aufmerksam zu machen, weil sonst vielleicht niemand so einen langweiligen Artikel über Geschlechtskrankheiten liest, haben wir ein gesponsertes Kondom unter den Artikel geklebt. Das war zu der Zeit total pikant, ein Kondom in eine Zeitung zu kleben. Der Spiegel ist darauf aufmerksam geworden und hat darüber berichtet, so dass auch Frauen aus anderen Bundesländern von uns erfahren haben.
Zuerst haben wir dann Sexarbeiterinnen aus Frankfurt getroffen und so entstand allmählich eine internationale Vernetzung, weil wir merkten, dass wir die gleichen Ideen hatten, und so entstanden weitere Hurenprojekte. Es wurde deutlich, dass sich die Sorgen der Frauen nicht um Krankheit, Ausbeutung und Zuhälterei drehten, sondern um das, das sie isoliert. Das bestätigten uns auch die Frauen aus dem Ausland.
Freddy: Ich bin erst später 1993 dazu gekommen und habe Helgas auf ihrer Arbeitsstelle abgelöst. Das Thema AIDS war natürlich schon immer ein wichtiges Thema. Ich habe Aktionen zu HIV/AIDS-Prävention in den Bordellen gemacht und versucht, auch mit anderen Aktionen die Anerkennung von Prostitution als Beruf zu erreichen. Für mich war der Ausgangspunkt Brasilien. Ich habe in Brasilien bei der Prostituiertenorganisation Davida gearbeitet und hatte viele Kontakte zu den dortigen AIDS-Aktivist*innen. Dort habe ich bis 2013 gearbeitet. Die Verbindung zwischen dem AIDS-Movement und dem Sexworker-Movement war enger als hier in Deutschland. Das Gesundheitsministerium Brasiliens hat die Partizipation der Betroffenen viel gefördert und war im Bezug darauf modellhaft. Ansonsten hatte ich Kontakte zur Deutschen Aidshilfe. Die Deutsche Aidshilfe hat sehr viele Plakate und Informationsmaterialien gemacht. Bei vielen Sachen wurden wir – von Hydra – gefragt, ob das gut sei. Teilweise haben wir Materialien zusammen entwickelt, aber das hat auch zu Konflikten geführt. Es gibt vieles zu erzählen. Es gibt Materialien von Hydra, die toll sind und an Freier gerichtet sind. Es war so wichtig, dass die Kunden etwas tun und die Wünsche der Prostituierten akzeptieren. Helga, du hast auch eine wunderbare Aktion von dem Bockschein für Freier zu erzählen.
Helga: Ja, am Anfang haben wir überlegt, wie AIDS von den Schwulen zu den Prostituierten übertragen werden soll und haben uns viele Aktionen überlegt und mit dem Senat gesprochen. Sie wollten damals nicht das Wort „Kondom“ auf Plakate schreiben. Aber wie sollten die Menschen sonst erfahren, wie man sich vor AIDS schützen kann? Ganz am Anfang hat der Berliner Senat eine AIDS Task Force gebildet und uns eingeladen und dadurch kamen wir mit vielen schwulen Projekten in Kontakt. So konnten wir sehr viel Power entwickeln. Aber wir mussten unser eigenes Ding machen. Also diese Aktion, die Freddy meint, ist sehr witzig. Die Sexarbeiterinnen waren damals verpflichtet, regelmäßig zum Gesundheitsamt zu gehen, um sich auf Geschlechtskrankheiten untersuchen zu lassen. Für die Freier gab es diese Pflicht nicht. Das fanden wir diskriminierend und erklärten darum, dass dann auch die Freier untersucht werden müssten, ob sie krank sind. Darum haben wir einen sogenanntes Bockschein für Männer entworfen. So nannten die Frauen die Untersuchungsbescheinigung vom Gesundheitsamt – angelehnt an den gynäkologischen Stuhl, den Bock. Diesen Bockschein für Männer haben wir tausendfach ausgedruckt. Wir wollten die Scheine an Berliner Männer verschicken. Das kostete damals viel Geld für Porto. Aber es gab von allen Mitarbeitern im Senat Telefonlisten mit Namen und Zimmernummer. So haben wir alle Männer angeschrieben und die Briefe beim Pförtner abgegeben, der sie an alle Männer verteilte. Wir haben die Männer aufgefordert, an einem bestimmten Tag in Berlin in das neue Gesundheitshaus für Männer zu kommen, sich untersuchen und den Bockschein abstempeln zu lassen. An der Urania , fast am Ende des Kurfürstendamms, haben wir ein Zelt aufgestellt und einen gynäkologischen Stuhl platziert. Aber zu unserer Eröffnungszeit kamen keine Männer von Senat raus. Im Gegenteil, sie haben die Tür abgeschlossen, damit wir keine Demonstration im Haus machen. Aber es war sehr witzig. Natürlich gab es sehr viele Beschwerden von Männern beim Senat, oder die auch bei uns anriefen und fragten: “Wie können Sie so etwas sagen, dass ich ein Freier bin?” Oder die sich sorgten, dass vielleicht die Frau den Brief gesehen hatte. Die Senatsverwaltung, die uns finanzierte, hat sich jedoch hinter uns gestellt und gesagt, dass wenn die Männer sich so aufregen, etwas dran sein muss und die Aktion gut ist. Sie haben uns verteidigt.
Wir haben immer versucht, mit witzigen Aktionen etwas zu erreichen, denn sonst hört uns niemand zu, wenn es nur traurig und düster ist. Bei uns war es immer wichtig, etwas Lustiges zu machen. Ein Berliner Transportunternehmer hatte unser Plakat in der U-Bahn gesehen und uns Geld für eine weitere Aktion gegeben. Damit wollten wir unseren Spruch „Im öffentlichen Nahverkehr geht ohne Gummi gar nichts mehr“ auf einen Berlin Bus drucken lassen. Die Berliner Verkehrsbetriebe waren jedoch gegen den Spruch auf ihrem Bus, da niemand etwas mit Prostitution zu tun haben wollte. Dann haben wir drei Kinospots mit diesem Spruch gedreht, und der Berliner Senat hat unseren Antrag bewilligt, und so liefen diese Spots mehrere Monate lang zwischen den Werbeblocks in vielen Berliner Kinos. Das Delphi-Kino in der Nähe des Bahnhofs Zoo hat unseren Film sogar noch über ein Jahr lang kostenlos gezeigt. Ein Film zeigte: Kontrolleure, die in den Bus einstiegen und die Fahrscheine kontrollierten, da zeigte jemand ein Kondom in die Luft, und dann sangen alle Fahrgäste “Im öffentlichen Nahverkehr geht ohne Gummi geht gar nichts mehr”. Diesen Spruch sangen alle Leute im Kino mit. Mit solchen Aktionen hatten wir viel Erfolg und kamen ins Gespräch.
Freddy: Ich habe die Links geschickt, um den Film zu sehen.
Helga: Auf der Webseite von Hydra gibt es sie auch.
Nikos: Im Bezug auf diese witzige Aktionen, AktivistInnen von Deutsch Aidshilfe waren dagegen?
Helga: Am Anfang gab es glaube ich noch keine Deutsche Aidshilfe. Es gab nur die Berliner Aidshilfe, die Deutsche Aidshilfe hatte später eine Referentin zur Prostitution. Sie entwarf klischeehafte Plakate und wir hatten deswegen Streit mit der Deutschen Aidshilfe, aber die überließ die Entscheidung der Referentin.
Freddy: Die Deutsche Aidshilfe wurde bereits 1983 gegründet.
Helga: Ja, am Anfang hatten wir nichts mit der Deutschen Aidshilfe zu tun, sondern nur mit der Berliner Aidshilfe. Wir stritten uns mit ihnen, weil sie wollten, dass wir uns mehr mit dem Thema beschäftigen. Wir verstanden unser Projekt als politisches Projekt mit Prostituierten, nicht im Zusammenhang mit dem Drogenbereich. Wir sagten, dass es bereits Drogenprojekte gibt, die sich darum kümmern sollten, wenn drogenabhängige Frauen zu uns zur Beratung kommen, dann natürlich. Aber wir wollten keine speziellen Programme für Drogenabhängige anbieten, da es zu der Zeit immer wieder Polizeikontrollen bei Drogenabhängigen gab. Es war eine große Frage des Datenschutzes, und wir wollten nicht, dass unsere Daten eingesehen werden. Das war ein Grund, und die Berliner Aidshilfe hat gesagt, macht eure Sache, und dann hat sich das Fixpunkt Projekt irgendwann gegruendet.
Nikos: Wie waren die Beziehungen zwischen Hydra und ACT UP in Deutschland?
Helga: Mit ACT UP hatte ich nicht so viel zu tun. Wir waren hauptsächlich mit anderen Prostitutionsprojekten in Holland beschäftigt und haben dort den ersten internationalen Hurenkongress in Brüssel organisiert. Die ICRSE wurde immer internationaler, aber wir waren auch oft auf Christopher Days und haben natürlich auch mit anderen Gruppen zusammengearbeitet. Wir meistens haben uns auf Hurenprojekte auch im internationalen Kontext konzentriert und tolle Anregungen erhalten. Zum Beispiel haben wir Materialien mit Gesundheitsinformationen aus Neuseeland bekommen. Ich erinnere mich daran, dass Friederike für diese internationalen Vernetzungen zuständig war. Mit den Frauen aus Neuseeland haben wir dann die Gesundheitsmappe übersetzt, die nicht nur über AIDS informierte, sondern auch breiter über Gesundheitsthemen aufklärte. Wir bekamen dann Unterstützung vom Berliner Senat und konnten unsere Arbeit beginnen
Nikos: Hatten Sie enge persönliche Kontakten mit Aktivist*innen aus Neuseeland?
Helga: Na ja, nicht so viele persönliche Kontakte. Ich bin nie in Neuseeland gewesen, aber es kamen welche aus Neuseeland nach Berlin. Wir hatten auf jeden Fall Kontakte mit Sexarbeiterinnen in Holland. Wir sind dorthin gereist und haben Projekte besucht. Außerdem waren wir in Schottland, in Edinburgh, wo ich einen Vortrag gehalten habe. Wir hatten auch Kontakte mit Ruth Morgan.
Nikos: Hatten Sie auch Kontakte mit Aktivist*innen aus Südeuropa in den 1980er und 1990er Jahren?
Helga: So als die Mauer geöffnet wurde, gab es keine Projekte, sondern interessierte Personen. Ich war in Prag, aber ich weiß nicht, ob Sexarbeiterinnen daran beteiligt waren. Die Veranstaltung wurde von der Böll Stiftung organisiert. Mit Italienerinnen hatten wir viele Kontakte, sie waren sehr aktiv, und wir hatten auch Kontakte mit Frankreich.
Nikos: Was betrifft Frankreich, waren Sie inspiriert von den Protesten in 1975?
Helga: Auf jeden Fall, ich kannte eine Frau, die daran beteiligt war, aber zu der Zeit gab es keine richtige Hurenbewegung, sondern Projekte, die Frauen retten wollten. In Frankreich herrschte eine sehr abolitionistische Politik, die bis heute fortbesteht. Wir müssen weiterhin kämpfen, so wie in Schweden.
Nikos: Im Allgemeinen war es für Sie wichtig, sich als Teil einer internationalen Bewegung zu fühlen?
Helga: Ja, unbedingt. Wir haben gemerkt, dass wir gemeinsame Ziele hatten, dass wir für Entkriminalisierung und gegen Stigmatisierung kämpfen wollten. Das war unser großes Ziel, und wir haben bemerkt, dass dies auch in anderen Ländern gefordert wird. In Indien zum Beispiel fordern Frauen auch ihre Rechte ein. In Deutschland heißt es oft, dass nur ein Bruchteil der Prostituierten für ihre Rechte kämpft, dass die meisten Opfer von Menschenhandel sind und unterdrückt werden. Es ist gut zu wissen, dass sie auch in anderen Ländern für ihre Rechte kämpfen. Eine Hydra-Frau nahm einmal an einem AIDS-Kongress teil, der alternativ in Indien stattfand, weil Prostituierte nicht in die USA zur AIDS-Konferenz einreisen durften. In Indien fand ein Alternativ-Kongress statt, bei dem 60.000 Frauen für ihre Rechte, Entkriminalisierung und gegen Stigmatisierung demonstrierten. Das macht uns stark, auch wenn wir gegen den Wind kämpfen müssen. Friederike kann dazu auch noch etwas sagen.
Freddy: Es gibt viele Beispiele aus neuerer Zeit. Natürlich haben wir heute eine wunderbare Vernetzung durch das Global Network of Sex Work Projects (NSWP). Aber das kam später nach den 1990er Jahren. Auf den AIDS-Konferenzen gab es viele Kontakte zu Kollegen und Kolleginnen, aber das war später, nicht in den 1990er Jahren. Es gibt Kontakte nach Italien wie das Comitato per i Diritti Civili delle Prostitute. Ich war auf einer AIDS-Konferenz in Barcelona, die, ich glaube, in 2002 war . Mit der brasilianischen Organisation Davida war ich bei der Aidskonferenz in Mexico (2008) und in Wien (2010), wo wir viel mit AIDS-Aktivist*innen gemacht haben, zumal wir dort mit dem brasilianischen Sexworker Modelabel Daspu Modenschauen organisiert haben.
Die AIDS-Konferenzen waren teilweise früher. Das in Calcutta war 2012 oder so und auch Amsterdam in 2018 war wichtig für uns. Es ging darum, später Peer-Projekte aufzubauen. Die Anfänge waren bei Hydra die Streetwork in den Bordellen, immer mit jemandem, der selbst Erfahrungen in der Sexarbeit hatte. Wir konnten auch Kondome kostenlos zur Verfügung stellen. Diese Ansätze sind wichtig zu erwähnen, da sie damals ihren Anfang genommen haben. Zum Beispiel erinnere ich mich an die heutigen Sexworkkalender, die von der Deutschen Aidshilfe gegeben wurden. Die Anregung entstand durch die brasilianischen Kalender für Prostituierte mit nützlichen Tipps und Adressen. Es gibt immer wieder solche Beispiele. In den 1990er Jahren hat die Deutsche Aidshilfe Kurse für Sozialarbeiter*innen zum Thema Prostitution gemacht. Und was Helga zum Thema Menschenhandel erwähnt hat, war in den 1990er Jahren sehr stark, da der Diskurs unterschiedlich war. Das ist auch eine Sache, die in anderen Ländern passiert ist. Wir haben wieder zusammengearbeitet.
Helga: In den 1980er Jahren waren viele Dominikanerinnen in Berlin. Dann kamen viele Frauen aus Thailand. Ich habe mit den Thailänderinnen zu tun gehabt. Die Frauen, die schon Prostitutionserfahrungen in Thailand hatten, wussten in der Regel, warum sie hierher gekommen waren, also dass sie zum Anschaffen kamen. Jemand hatte das organisiert. Sie hatten ein Touristenvisum für drei Monate und mussten wieder dann ausreisen. Viele Frauen haben es dann selbstständig organisiert, dass sie nach einigen Monaten wieder einreisen konnten und haben das teilweise auch für andere Frauen organisiert. Aber kann man das als Menschenhandel bezeichnen? Sie haben das nicht so wahrgenommen. Es war ein Netzwerk für sie. So haben wir das wahrgenommen und akzeptiert. Was sie erzählten, wurde von dem Huren-Projekt aus Frankfurt, HWG, unterstützt. Die Abkürzung HWG stand auch für Frauen mit häufig wechselndem Geschlechtsverkehr. Das war der Begriff des Gesundheitsamtes. Die Frauen vom Projekt HWG erzählten von Studentinnen, die unbedingt Thailänderinnen retten wollten mit zur Streetwork gingen und erfuhren, dass die Frauen nicht gerettet werden wollten und den Job dort gerne machen. In dieser Zeit haben wir auch Streetwork gemacht, aber unsere Frauen waren nicht wirklich gut geschult dafür. Es reicht nicht, Sexarbeiterin zu sein, um gute Streetwork zu machen.
Freddy: Die meisten Probleme der Frauen, die von Menschenhandel betroffen sind, entstehen durch Verletzungen der Arbeitsrechte. Und wenn es Ausbeutung gab, konnten die Frauen überhaupt keine legale Arbeit ausüben und waren in einer anderen Situation. Dazu kommt die Frage des Rassismus und der Migration. Ich erinnere mich sehr gut daran, dass in den 1990er Jahren ein sehr starker Rassismus innerhalb der Sexarbeiter*innen-Bewegung herrschte. Viele hatten Vorurteile, indem sie sagten, dass die Migrant*innen-Sexarbeiter*innen keine Kondome benutzten und niedrigere Preise forderten. Es war ein großer Kampf, um die Kolleg*innen aus anderen Ländern immer wieder einzubeziehen. Sie waren in einer anderen Situation, aber sie sollten nicht als Konkurrenz betrachtet werden, sondern als Kolleg*innen. Das war immer ein großer Konflikt und es war schwierig, die Kolleg*innen aus anderen Ländern in die Bewegung einzubeziehen, weil sie nur für kurze Zeit da waren. Einige von ihnen waren interessiert und beteiligten sich aktiv, aber die meisten nicht. Sie waren entweder in ihrem eigenen Land aktiv oder waren nach einiger Zeit weg. Es war ein großes Thema und wir haben versucht, das Bewusstsein dafür zu schärfen. In dieser Zeit haben wir viele Materialien über Gesundheitsthemen, einschließlich Geschlechtskrankheiten und AIDS, in vielen verschiedenen Sprachen erstellt, um den Frauen diese Informationen zugänglich zu machen. Wir hatten auch ein sehr schönes Lexikon über Begriffe der Sexarbeit wie Preise, Angebote usw. in verschiedenen Sprachen. Es war eine sehr schöne Broschüre und wir waren immer sehr kritisch gegenüber Rassismus und haben versucht, viel mit den Migran*tinnen in der Sexarbeit zu tun zu haben.
Helga: Ja, ich denke, wir haben uns als politisch linkes Projekt etabliert.
Freddy: Ja, 2000 haben wir versucht zu schauen, wie Migrant*innen aus Nicht-EU-Ländern legal nach Deutschland kommen können, um zu arbeiten. Wir haben viel mit Migrantinnen-Organisationen diskutiert. Es ist nicht einfach, das Ausländergesetz in Deutschland zu ändern, und es hat nicht geklappt, aber wir haben immer wieder versucht zu schauen, wo es offene Stellen gibt, wenn man eine Arbeitserlaubnis hat.
Helga: Ich erinnere mich daran, dass einige Thailänderinnen geheiratet haben, um ihren Aufenthaltsstatus zu erhalten, und nicht, weil sie jemanden besonders liebten.
Nikos: Wenn ich mich nicht irre, gab es Zusammenarbeit zwischen Hydra und einigen Organisationen von türkischen Migranten während der 1990er Jahre?
Helga: Türkische?
Freddy: Nach meiner Erfahrung gab es nicht viele Frauen aus der Türkei in den Bordellen, sondern aus anderen Ländern. Anfang der 1990er Jahre waren die meisten Frauen Thailänderinnen, es gab sehr viele Frauen aus Polen und Tschechien, mittlerweile auch aus Bulgarien und Rumänien, vor allem in Berlin, sowie aus der Dominikanischen Republik und Kolumbien, teilweise auch aus Brasilien und afrikanischen Ländern wie Nigeria und Ghana sowie auch viele europäische Frauen. Der Anteil der migrantischen Sexarbeiter*innen ist höher geworden, heute sind es 70%-80%. Hydra macht sehr viel zu AIDS-Prävention für Migrant*innen in der Sexarbeit.
Helga: Es gab auch Türkinnen bei Hydra, aber es handelte sich um Frauen, die bereits in Berlin gelebt und hier aufgewachsen waren. Es gab keine Migrationsthemen. Manchmal kamen Frauen einfach, weil sie dieses Netzwerk wollten und andere Frauen kennenlernen und sich politisch engagieren wollten. Sie hatten viele Probleme aufgrund von Stigmatisierung und wollten vielleicht wissen, wie sie am besten ihren Lebenslauf schreiben könnten. Sie kamen zur Beratung und um sich auszutauschen.
Nikos: Hat AIDS eine wichtige Rolle in der Zusammenarbeit zwischen Hydra und migrantischen Sexarbeiter*innen gespielt?
Freddy: Ja, das war natürlich ein großes Problem der Gesundheitsversorgung, weil Migrant*innen, die hier als Sexarbeiter*innen arbeiteten und HIV-positiv waren oder andere Krankheiten hatten, keinen Zugang zur Krankenversicherung hatten. Es gab Organisationen, die kostenlose und anonyme Tests durchführten, Beratung und Hilfe anboten und engen Kontakt zu öffentlichen Gesundheitsämtern hielten.
Nikos: Hatten Sie Kontakt zu migrantischen Sexarbeiterinnen, die LGBTQ waren, zum Beispiel Transfrauen?
Freddy: Ja, wir hatten auch Transfrauen in der Beratung, aber sie waren nicht der größte Teil.
Helga: Meine Erfahrung damals war, dass transsexuelle Menschen große Schwierigkeiten hatten, ihre Papiere und ihre Geschichte zu ändern. Dies wurde in den 1990er Jahren oder noch später immer mehr legalisiert oder vereinfacht. Viele waren nur in dieser in dieser Übergangsphase in die Prostitution gegangen und später stand Prostitution nicht mehr im Mittelpunkt ihres neuen Lebens stand. Eine transsexuelle Frau, die jetzt in einem Steuerbüro arbeitet, hat ein anderes Leben und hat seit langer Zeit nichts mehr mit Prostitution zu tun. Für manche Frauen war dies eine vorübergehende Phase, um etwas zu überprüfen und Geld zu verdienen, bevor sie etwas anderes machten. Die Schwulen haben oft nicht verstanden, warum Sexarbeiterinnen sich nicht outeten und waren verwundert über ihr mangelndes Selbstbewusstheit. Ich sagte, dass Prostitution keine Identität ist, sondern nur eine Arbeit, und dass Sexarbeiterinnen auch andere Identitäten haben.
Nikos: In den 1990er Jahren war es noch umstritten, über transgender Personen zu sprechen und für ihre Rechte zu kämpfen?
Helga: Ich kann das nicht genau sagen, da ich mich anfangs nicht mit dem Thema beschäftigt habe. Als ich in den 1980er Jahren Begegnungen mit transsexuellen Personen hatte, war es nicht legal, seine Identität zu wechseln. Es gab damals Transsexuellen-Clubs oder Tunten, bei denen es nicht immer klar war, ob sie als Transsexuelle bezeichnet werden sollten.
Freddy: Heute gibt es viel mehr Trans*-Organisationen, mit denen man zusammenarbeiten kann, auch spezielle Trans-Sexarbeiter*innen-Organisationen.
Helga: Als die ersten zu uns kamen, gab es keine andere Organisation.
Freddy: In den 1990er Jahren gab es schon welche.
Nikos: Hat Hydra gegen Maßnahmen der Europäischen Union gegen Migranten wie zum Beispiel Fortress Europe gekämpft?
Freddy: In den 1990er Jahren haben wir uns stark dafür engagiert, dass Migrant*innen zu uns kommen konnten. Es wurde immer wieder das Thema Menschenhandel benutzt, damit sie kein Visum beerhalten. Wir haben gesagt, nein, das ist umgekehrt: Die Menschen brauchen ein Visum, eine Arbeitserlaubnis, dann sind sie nicht erpressbar und ausbeutbar. Wir haben auch versucht, die Zivilgesellschaft zu verändern. Das ist ein heißes Thema und es ist nicht einfach, Meinungen zu ändern.
Nikos: Sie haben mir von internationalen Hurenkongressen während der 1990er Jahre erzählt. War AIDS ein wichtiges Thema auf diesen Kongressen?
Helga: Ja, natürlich war das auch ein Thema. Aber bei den ersten, glaube ich in Brüssel, stand es nicht im Vordergrund. Es ging hauptsächlich um Entkriminalisierung und die Rechte von Sexarbeiterinnen. AIDS war auch ein Thema, weil es gegen die Frauen [Sexarbeiterinnen] benutzt wurde.
Freddy: Wir haben immer versucht, dass Prostituierte nicht als besondere Risikogruppe gesehen werden. Ich glaube, das hat die 1980er und 1990er Jahre sehr geprägt. Das Thema war in allen Ländern ähnlich und weltweit wurden Prostituierte immer als Risikogruppe stigmatisiert und auch für die Verbreitung von Krankheiten verantwortlich gemacht. Das passiert auch heute wieder bei Corona.
Nikos: Sie haben von witzigen Aktionen erzählt. Gab es auch andere Aktionen, die Hydra veranstaltet hat, die nicht so witzig waren?
Freddy: Im Jahr 2005 gab es in Berlin den Karneval der Kulturen. Dort haben wir als Hydra an einer Sambagruppe teilgenommen. Ansonsten gab es viele Demonstrationen und Kundgebungen von Prostituierten, bei denen es mehr um Lust als um Tod oder Sterben ging. Es ging um sexuelle Freiheit und darum, dass man selbstbestimmt seine Sexualität in der Prostitution oder anderswo leben darf. Es herrschte viel positives Denken. Das war ein großer Unterschied zur AIDS-Bewegung, denn die Sexarbeiter*innen-Bewegung ist eine Arbeiter*innen- oder Arbeitsrechte-Bewegung.
Helga: Es gab keine tödliche Bedrohung und man konnte sich sicher schützen, indem man Kondome benutzte. Als wir an einer Ausstellung teilgenommen haben, an der sich viele schwule Projekte beteiligt haben, wurde das Thema Kondome oft als traurig empfunden. Wir haben deshalb versucht, es humorvoller zu gestalten. Wir haben eine Jukebox aufgestellt und ein Lied produziert, das wir nach der Melodie der Deutschen Hymne gesungen haben. Es war ein Kondomlied. Neben der Jukebox haben wir eine Lichtschranke und eine männliche Schaufensterpuppe platziert. Wenn man durch die Schranke getreten ist, ging bei der Puppe der Penis mit einem Kondom hoch und die Musik begann zu spielen. Das war sehr lustig, aber die Ausstellungsmacher, die den ganzen Tag lang dort waren, haben über die Länge des Liedes geklagt, aber die Besucher waren begeistert.
Nikos: Wie hat die Wiedervereinigung Deutschlands die Aktivitäten von Hydra beeinflusst?
Helga: Viele Grenzen wurden geöffnet und viele Frauen aus Osteuropa und Südeuropa kamen nach Deutschland. Es gab damit verbundene Probleme, wie Freddy bereits erwähnt hat. Es gab Rassismus und rechtliche und mediale Probleme.
Nikos: Das waren meine Fragen, aber möchten Sie noch etwas hinzufügen?
Freddy: Wir haben eine Ausstellung über die Geschichte von Hydra gemacht, bei der wir ein Kleid aus Kondomen und einen Bikini aus Kondomen von Adriana Bertini aus Brasilien präsentiert haben. Es gibt auch schöne Bilder davon. Wir haben immer wieder versucht, wie es auch in der Sexarbeiter*innen-Bewegung üblich ist, kreative und lustige Aktionen durchzuführen. Wir verteilen nicht nur Kondome, sondern versuchen auch andere Dinge zu tun. Zum Beispiel haben wir uns anlässlich der Jahrestage der Besetzung einer Kirche in Frankreich am 2. Juni 1975 beteiligt und führen jedes Jahr am Internationalen Hurentag Aktionen durch. Wir gehen in Bordelle und verteilen Lilien an die Frauen, allerdings nicht während der Corona-Pandemie. Es ist wichtig, dass wir immer wieder kreative und motivierende Aktionen durchführen.
Nikos: Ich möchte mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken!